Письмо незнакомки / Brief einer Unbekannten - стр. 6
Mein Kind ist gestern Nacht gestorben – nun werde ich wieder allein sein, wenn ich wirklich weiterleben muss. Morgen werden sie kommen, fremde, schwarze, ungeschlachte Männer, und einen Sarg bringen, werden es hineinlegen, mein armes Kind. Vielleicht kommen auch Freunde und bringen Kränze. Sie werden mich trösten und mir irgendwelche Worte sagen. Was können sie mir helfen? Ich weiß, ich muss dann doch wieder allein sein. Und es gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter den Menschen. Damals habe ich es erfahren, damals in jenen Jahren von meinem sechzehnten bis zu meinem achtzehnten, wo ich wie eine Gefangene zwischen meiner Familie lebte[40].
Der Stiefvater, ein sehr ruhiger, wortkarger Mann, war gut zu mir, meine Mutter schien allen meinen Wünschen bereit, junge Menschen bemühten sich um mich, aber ich stieß sie alle in einem leidenschaftlichen Trotz[41] zurück. Ich wollte nicht glücklich, nicht zufrieden leben abseits von Dir. Die neuen, bunten Kleider, die sie mir kauften, zog ich nicht an. Ich weigerte mich, in Konzerte, in Theater zu gehen. Ich saß allein zu Hause, stundenlang, tagelang, und tat nichts, als an Dich zu denken. Ich kaufte mir alle Deine Bücher. Wenn Dein Name in der Zeitung stand, war es ein festlicher Tag. Willst Du es glauben, dass ich jede Zeile aus Deinen Büchern auswendig kann, so oft habe ich sie gelesen?
Die ganze Welt, sie existierte nur in Beziehung auf Dich. Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ich wurde siebzehn, wurde achtzehn Jahre – die jungen Leute begannen sich auf der Straße nach mir umzublicken, doch sie erbitterten[42] mich nur. Mein ganzes Denken war in eine Richtung gespannt: zurück nach Wien, zurück zu Dir.
Mein Stiefvater war vermögend[43], er betrachtete mich als sein eigenes Kind. Aber ich drang in erbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein Geld selbst verdienen, und erreichte es endlich, dass ich in Wien zu einem Verwandten als Angestellte eines großen Konfektionsgeschäftes kam. Muss ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als ich an einem nebligen Herbstabend – endlich! endlich! – in Wien ankam?
Ich ließ die Koffer an der Bahn, stürzte mich in eine Straßenbahn und lief vor das Haus. Deine Fenster waren erleuchtet, mein ganzes Herz klang. Ich sah nur empor[44] und empor: da war Licht, da war das Haus, da warst Du, da war meine Welt. Zwei Jahre hatte ich von dieser Stunde geträumt, nun war sie mir geschenkt. Ich stand den langen, weichen Abend vor Deinen Fenstern, bis das Licht erlosch.
Dann suchte ich erst mein Heim. Jeden Abend stand ich dann so vor Deinem Haus. Bis sechs Uhr hatte ich Dienst im Geschäft, harten, anstrengenden Dienst, aber er war mir lieb, denn diese Unruhe ließ mich die eigene nicht so schmerzhaft fühlen. Nur Dich einmal sehen, nur einmal Dir begegnen, das war mein einziger Wille, nur wieder einmal mit dem Blick Dein Gesicht umfassen[45] dürfen von ferne. Etwa nach einer Woche geschah dann endlich, dass ich Dir begegnete, und zwar gerade in einem Augenblick, wo ich es nicht vermutete: während ich eben hinauf zu Deinen Fenstern spähte[46], kamst Du quer über die Straße. Und plötzlich war ich wieder das Kind, das dreizehnjährige, ich fühlte, wie das Blut mir in die Wangen schoss; unwillkürlich, wider meinen innersten Drang, der sich sehnte, Deine Augen zu fühlen, senkte ich den Kopf und lief blitzschnell an Dir vorbei. Nachher schämte ich mich dieser schulmädelhaften Flucht